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Stärker als das Schicksal

Annika Büsings faszinierend-verstörendes Romandebüt „Nordstadt“

„Ich liebe dich, sage ich.“ Der erste Satz im Romanerstling von Annika Büsing kann leicht in die Irre führen. Hier geht es überhaupt nicht um Schmetterlinge im Bauch, um romantische Süßholzraspelei oder eine abenteuerliche Romanze. 

Im Debüt der in Bochum geborenen und am Hildegardisgymnasium (Deutsch und Religion) unterrichtenden Annika Büsing stehen zwei Figuren im Mittelpunkt, denen das Schicksal ganz übel mitgespielt hat. „Sie ist stärker als dieses Schicksal“, hat die Autorin kürzlich im NDR-Kulturjournal über ihre Protagonistin Nene erklärt.

In der hier dargestellten „Nordstadt“ zeigt sich der Alltag von seiner ganz dunklen Seite. Und genau diese Sphären leuchtet Annika Büsing aus: Armut, Alkohol, niedriges Bildungsniveau, Kindesmisshandlung, Gewaltexzesse und Ausgrenzung von sozialen Minderheiten (hier vor allem: Behinderte) bilden die Expfeiler im Leben von Nene und Boris. 

Besonderes Verhältnis zum Schwimmbad der „Nordstadt“

Nene entwickelt im Laufe der Jahre ein besonderes Verhältnis zum Schwimmbad der „Nordstadt“, hat mit fünf Jahren schon schwimmen gelernt, verlor im Alter von acht Jahren ihre Mutter und wurde später von ihrem, dem Alkohol verfallenen Vater immer wieder misshandelt. Es folgten Heimaufenthalte und kurze Intermezzi bei ihrer 13 Jahre älteren Halbschwester Alma, die als erfolgreiche Goldschmiedin den „Aufstieg“ geschafft hat. 

Nene ist siebzehn, als sie auf einem Spielplatz vergewaltigt wird. Nur ihrer Freundin Genet vertraut sie sich an, eine Mischung aus Scham und Schmerz macht sich in ihr breit.„Willst du nichts machen?“, und ich sagte: „Doch. Ich will es vergessen.“ 

„Jetzt-erst-recht-Mentalität“ der Ich-Erzählerin

All die Schicksalsschläge haben in der Ich-Erzählerin offensichtlich eine Art „Jetzt-erst-recht-Mentalität“ geweckt. Das eher schmuddelige, veraltete Schwimmbad in ihrem Stadtteil wird prägend. Hier hat sie als Schülerin gejobbt, später ihre Ausbildung als Fachangestellte für den Bäderbetrieb abgeschlossen und einen Arbeitsplatz gefunden. Für Nene ein Wohlfühlort. Hier geht es ums Bahnen ziehen. Fitness statt Wellness ist in der Nordstadt angesagt. Im Bad begegnet sie dem gleichaltrigen Boris, der als Zweijähriger an Kinderlähmung erkrankt und seitdem gehbehindert ist. 

Verspottet, arbeitslos und ohne jede Zukunftsperspektive: Boris‘ Lebensweg scheint ähnlich düster gewesen zu sein. Nene arbeitet ihm ein speziell auf seine Bedürfnisse ausgelegtes Trainingsprogramm aus, und die beiden freunden sich an. Sie gehen gemeinsam ins Kino, aber mehr als schüchternes Händchenhalten will den beiden Mittzwanzigern nicht gelingen.

Zwei junge Menschen wollen ihre (ziemlich grob strukturierte) Gefühlswelt neu sortieren, können sich aber trotz vorhandener Zuneigung dabei nicht gegenseitig helfen. 

Nicht überraschend: kein Happy-End

Wie nicht anders zu erwarten, gibt es bei Annika Büsings Roman kein Happy-End. Im Gegenteil: Auf der Beerdigung von Nenes Vater droht Boris: „Wenn du mit wem anders rummachst, stecke ich die Stadt in Brand.“ Auf nicht einmal 130 Seiten durchleben wir (fragmentarisch) die Lebensläufe von zwei stark traumatisierten Figuren – eine Atmosphäre der völligen Schutzlosigkeit der Schwachen.

Der Erzählton in „Nordstadt“ klingt nach Atemlosigkeit, nach dauerhaft erhöhtem Pulsschlag. Alles wirkt gehetzt und getrieben, wie eine Dauerflucht vor allem und jedem. Annika Büsings bisweilen derber Humor lässt unser Lachen schon in der Kehle gefrieren ist. Kein Buch für zartbesaitete Gemüter, aber ein mehr als verheißungsvolles Debüt mit glasklarem, beinahe sezierenden Blick auf den Rand unserer Wohlstandsgesellschaft.Nenes Liebe zum Schwimmen darf man am Ende durchaus metaphorisch interpretieren, als einen permanenten Versuch des Sich-Über-Wasser-Haltens im sozialen Schmelztiegel der „Nordstadt“. 

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